Nur noch wenige Tage läuft die Angebotseinholung für Rahmenverträge zwischen dem MDR und mitteldeutschen Film- und Fernsehproduzenten, die im Auftrag des Senders Dienstleistungen erbringen wollen. Danach wird an Konditionen und Preisen vorerst kaum noch zu rütteln sein, während der Fachkräftemangel auch in unserer Branche unaufhaltsam voranschreitet. Aber was ist angemessen? Wo beginnt "Sittenwidrigkeit"? Und wie hängen Honorare mit möglicher Scheinselbstständigkeit zusammen?
Um hier für Überblick zu sorgen hat fairTV einen offenen Brief an die deutschen Film- und Fernsehproduzent*innen geschrieben, in dem neben unserer Prognose zur Honorarentwicklung bei Kamera und Schnitt in der Region auch die oben genannten Themen zur Sprache kommen.
Der Brief ist in unserem Download-Bereich als PDF abrufbar oder nachfolgend zu lesen:
Angebotsabfrage für Rahmenverträge mit dem MDR, Angemessenheit von Honoraren
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen,
nur noch wenige Tage, und Sie werden vermutlich ein Angebot für Film- und Fernsehdienstleistungen an den MDR abgeben[i]. Danach wird an Konditionen und Preisen vorerst kaum noch zu rütteln sein, während der Fachkräftemangel auch in unserer Branche unaufhaltsam voranschreitet[ii]. Corona hat daran nichts geändert, vielmehr täuscht die vorübergehend schwächere Auftragslage über den Umstand hinweg, dass noch mehr Kollegen als sonst die Berufe verlassen haben oder dies für die nächsten Jahre planen, was wir zuverlässig aus Gesprächen mit unseren Mitgliedern wissen. Die Pandemie wirkt hier wie ein Brennglas, unter dem die seit langem verfestigten Probleme deutlicher denn je zutage treten.
Wir fühlen uns daher für die Zukunft unserer Branche in der dringenden Verantwortung, einmal mehr auf angemessene Preisgestaltung hinzuweisen. Dabei möchten wir Sie konkret unterstützen, indem wir auf vorhandene Empfehlungen, rechtliche Gegebenheiten und schnell zu übersehende Fallstricke in Bezug auf die aktuelle Ausschreibung zu den Rahmenverträgen hinweisen. Dabei geht es exemplarisch um die Berufsbilder „Kameramann/-frau“ und „Editor*in“, Hinweise zu anderen Gewerken können Sie anhand der benannten Quellen selbst recherchieren. Bitte beachten Sie auch unseren Haftungsausschluss am Ende dieses Briefes.
TAGESSATZ für Rechnungssteller
Unsere Vorab-Version einer an das Prinzip „equal pay“ angelehnten Berechnung[iii], die wir von einem renommierten Consulting-Unternehmen durchführen lassen, weist angemessene Tagessätze für Editor*innen und Kameraleute oberhalb von 700 € für 8h aus. Der ebenfalls von professionellen Ökonom*innen erstellte BVFK-Honorarkalkulator[iv] auf der Basis individuell einzutragender Geschäftszahlen kommt zu ähnlichen Ergebnissen, sofern die Angaben dort sachgerecht gemacht werden. Weniger theoretisch bewerten die Berufsverbände die Situation und empfehlen Rechnungssteller-Gagen ab 503 € für Editor*innen (absolute Mindestgage, Stand 2020, BFS)[v] und 450-700 € für Kameraleute (Stand 2018, BVFK)[vi]. Ungeachtet dessen müssen wir leider auch aktuelle Realitäten in Mitteldeutschland anerkennen. So sind nach Angaben unserer Mitglieder aktuell (2020) 320-400 Euro Tagessatz für beide Gewerke durchsetzbar[vii]. Gleichzeitig gaben unsere Mitglieder kürzlich im alljährlichen Meinungsbild an, dass sie 2021 die Preise um 15% erhöhen wollen (Median, zzgl. Inflation). Hier war vermutlich die Erkenntnis der fehlenden Rücklagen während der Lockdowns ausschlaggebend für den überdurchschnittlich hohen Wert, wobei erfahrungsgemäß zu erwarten ist, dass sich diese Zahl nicht vollständig auf den Markt überträgt. Wir möchten dennoch anraten, 2021/22 von Honorar-Tagessätzen bei 350-500 Euro für Editor*innen und Kameraleute auszugehen, wobei hier die Künstlersozialabgabe (aktuell 2020: 4,2%)[viii] sowie angemessene Handlungskosten gegenüber dem Sender noch aufzuschlagen sind (siehe unten).
ZUSCHLÄGE
Passend zu den jährlich erscheinenden, viel benutzten fairTV®-Musterbriefen[ix] sowie unseren Honorarempfehlungen[x] möchten wir auf die von uns empfohlenen Zuschläge hinweisen und anraten, diese Praxis auch gegenüber dem MDR so zu handhaben. Sie liegen bei 25% für Mehrarbeit, 50% für Sonntage und 100% für Feiertage. Für halbe Schichten (sofern sie auf die halbe Stundenanzahl definiert sind) ist ein Mindermengenzuschlag von 50% üblich, eine halbe Schicht wird entsprechend mit 75% einer ganzen Schicht berechnet. Viele Kollegen verlangen auch berechtigterweise Nachtzuschläge, was vom MDR – abweichend gegenüber der Praxis im eigenen Unternehmen – nicht vorgesehen ist und daher angemessen eingepreist werden sollte, wenn absehbar viele Produktionen nachts stattfinden werden.
SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEIT bei Soloselbstständigen?
2017 entschied das Bundessozialgericht, dass auch die Honorarhöhe „ein gewichtiges Indiz“ für die Bewertung von Selbstständigkeit in Statusfeststellungsverfahren darstellt[xi]. Wir haben daraufhin in einer Musterrechnung ermittelt, dass erst ein Honorar ab 420 Euro (Stand 2017) in dieser Hinsicht unproblematisch erscheint[xii], darunter droht unter Umständen die nachträgliche Aberkennung der Selbstständigkeit mit allen Folgekosten. Dies ist zwar nur eine Modellrechnung, auch beeinflussen viele weitere Kriterien die Ergebnisse einer Statusfeststellung. Wir möchten aber dringend dazu raten, diesen Umstand in ihrer Kalkulation der Honorare zu berücksichtigen.
SITTENWIDRIGKEIT bei Festanstellungen?
Ab 01.04.2021 wird die tarifliche Bezahlung von festangestellten Kameraleuten und Editor*innen im Mitteldeutschen Rundfunk von 4684 € bis 7528 € im Monat[xiii] betragen. Das Bundesarbeitsgericht hat 2009 eindeutige Vorgaben zur Sittenwidrigkeit von Gehältern gemacht[xiv]. Demnach kann sittenwidrig sein, was unter zwei Dritteln im Vergleich zur ortsüblichen Tarifzahlung liegt. Gehälter unter 3123 € bis 5019 € (je nach passender Einordnung in Bezug auf Berufserfahrung und Qualifikation) könnten sich daher möglicherweise als sittenwidrig herausstellen. Auch das bitten wir Sie, in Ihrer Kalkulation gegenüber dem MDR zu bedenken.
HANDLUNGSKOSTEN
Natürlich werden Handlungskosten individuell kalkuliert. Dennoch sei hier exemplarisch auf das „Eckpunktepapier 2.0“ zwischen ARD und Produzentenallianz[xv] verwiesen, wo genre- und budgetbedingt mindestens 6% bis maximal 16,5% Handlungskosten von beiden Vertragspartnern anerkannt werden. Dabei müssen im Online-Tool des MDR die Handlungskosten – auch auf Personalkostenbestandteile - separat angegeben, also nicht direkt in Tagessatz-Preisen inkludiert werden. Wir vermuten daher, dass der Sender von einem „Durchreichen“ der in der Kalkulation angegebenen Honorare ausgeht, zumindest bei Rechnungsstellern.
FALLSTRICKE
Schließlich wollen wir auf einige Fallstricke hinweisen, die die Angebotsabgabe im Hinblick auf die Kalkulation bereithält. Dabei fällt zuerst die enorm hohe Ingest-Zeit („Einladen“) in der Postproduktion auf, die pro 8h Schnitt jeweils (!) bis zu 4h Ingest beinhaltet. In der Theorie würde das eine halbe Schicht Schnittassistenz sowie 4h Schnittplatz bedeuten, was zumindest als kalkuliertes Risiko im Tagessatz inkludiert werden sollte. Weiterhin muss auf die sehr kurzen Fristen für Absagen von Aufträgen seitens des Senders hingewiesen werden, die vor allem in Bezug auf Honorare kaum Sicherheiten bieten. Problematisch ist ebenfalls die Definition einer halben Schicht im Bereich „Aufnahme“ als 5h, was sowohl von der Praxis im Sender abweicht als auch von Kollegen allgemein wenig akzeptiert ist. Wir sehen daher das Anbieten von halben Schichten in diesem Bereich unter den genannten Bedingungen grundsätzlich kritisch.
Abschließend möchten wir nicht versäumen, uns im Namen unserer Mitglieder für die langen Jahre der guten Zusammenarbeit zu bedanken. Auch sollen Sie wissen, dass wir bei fairTV Sie für die im Mittel viel zu niedrigen Honorare nicht direkt verantwortlich machen, wenngleich wir uns mehr Mut gegenüber den Sendeanstalten in dieser Sache gewünscht hätten. Denn ursächlich für die immer dramatischere Situation ist die unrühmliche Tradition der öffentlich-rechtlichen Sender, ihre Marktmacht zu nutzen[xvi], um oftmals viel zu niedrige Budgets auszureichen und Film- und Fernsehdienstleistungen unangemessen niedrig zu bezahlen. Dass Sie als Unternehmer*in daher oft „in einer schwierigen Lage“ sind, verstehen wir.
Aber es gibt auch Hoffnung, denn selbst im MDR scheint ein vorsichtiges Umdenken begonnen zu haben. So wurde uns erstmals bestätigt, dass wir alle die Sorgen über Entwicklungen auf dem Fachkräftemarkt teilen. Als weiteres positives Signal werten wir, dass der MDR nach unseren Informationen derzeit nicht plant, Preise in den Angeboten für die Rahmenverträge später noch einmal während persönlicher Nachverhandlungen pauschal zu drücken. Umso wichtiger ist es jetzt, dass nicht der „Rotstift im Kopf“ die Regie übernimmt, Sie also bitte nicht in verständlicher Sorge um Ihre Konkurrenzfähigkeit die Preise derart niedrig ansetzen, dass daraus nicht einmal die oben genannten, geschweige denn wirklich angemessene Honorare finanzierbar sind.
Und bedenken Sie: Auch Ihre Mitbewerber*innen sind auf Fachkräfte angewiesen und müssen die gleichen Honorarsteigerungen akzeptieren, um handlungsfähig zu bleiben.
Wir alle möchten auch in Zukunft gemeinsam erfolgreiche Projekte realisieren. Dazu brauchen wir aber eine deutlich nachhaltigere Personalpolitik. fairTV ist in dieser Sache mit dem MDR in konstruktivem Gespräch, was Hoffnung macht. Bitte beweisen auch Sie als Unternehmer*in Verantwortung für Ihre Mitarbeiter*innen, Auftragnehmer*innen und den Medienstandort Mitteldeutschland.
Und handeln Sie entsprechend!
Vielen Dank.
Guntram Schuschke
fairTV e.V.
[i] Die Bewerbungsfrist unter https://www.mdr.de/unternehmen/ausschreibungen/angebotseinholung-rahmenvertraege-produktionsdienstleistungen-100.html endet am 30.11.2020, sowohl Anmeldung als auch jegliche Änderungen sind bis zum letzten Moment möglich.
[ii] https://fairtv.net/vlog/fachkraeftemangel-in-film-und-tv-die-werden-uns-fehlen
[iii] https://www.fairtv.net/projekte-aktionen/17-projekte/68-projekt-equalpay
[iv] https://www.bvfk.tv/kalkulator
[v] https://bfs-filmeditor.de/gagenkompass/
[vi] https://static.bvfk.tv/bvfk_folder/files/Arbeitsp.%20und%20Dokum.%20AG%C2%B4s/1708Honorarstandards%20fuer%20Kameraleute-teil1.pdf
[vii] Eine grundsätzliche Ausnahme scheint hier ein Beteiligungsunternehmen des MDR zu bilden, dort sind uns aus anonymen Umfragen deutlich niedrigere Honorare bekannt, über die nach Angaben der Befragten auch nicht verhandelt werden kann (https://www.fairtv.net/news/110-neue-mitglieder-berichten-bedenkliche-arbeits-und-verguetungsbedingungen-bei-der-mdr-tochter-mcs). Gespräche über die Situation blieben bisher leider ohne Erfolg (https://www.fairtv.net/news/113-gespraech-mit-mcs-geschaeftsfuehrung-irritierende-argumentation), es wird aber weiterhin versucht, miteinander in konstruktiven Dialog zu kommen.
[viii] https://www.kuenstlersozialkasse.de/service/ksk-in-zahlen.html
[ix] https://www.fairtv.net/projekte-aktionen/musterbriefe
[x] https://www.fairtv.net/empfehlungen
[xi] https://www.fairtv.net/news/44-bundessozialgericht-bestaerkt-formulierung-in-den-fairtv-musterbriefen-honorarhoehe-ist-ein-kriterium-zur-bewertung-von-scheinselbststaendigkeit
[xii] https://www.fairtv.net/news/45-erst-tageshonorare-ab-420-euro-beispiel-editoren-sind-argument-gegen-scheinselbststaendigkeit
[xiii] brutto, nicht „Junior“, nicht „Senior“, inkl. Umlage 13. Monatsgehalt, Quelle: MDR-Organisationshandbuch, Fassg. 09.09.2020, nicht online
[xiv] BSG v. 22.04.2009, 5 AZR 436/08
[xv] https://www.produzentenallianz.de/dokumente/selbstverpflichtungserklaerung-sender/ard-eckpunkte-2-0-stand-1-1-2019/
[xvi] https://www.fairtv.net/vlog/honorare-und-budgets-im-oerr-der-markt-regelt-das-schon